Wenn Michel Houellebecq wieder einmal ein Werk in die Welt wirft, kommt das in der Welt der Literatur der Veröffentlichung einer päpstlichen Enzyklika gleich. Die allgemeine Erregung ist groß. Ein Auslegungsgewitter schließt sich an, bei dem nur wenige Feuilletonistenmünder trocken bleiben. Hier wie dort wird ja immer Entscheidendes in Bezug auf den status quo der conditio humana zur Sprache gebracht. Die Fingerzeige des versiertesten Chefzynikers der französischen Gegenwartsliteratur weisen tief hinein in den Fuchsbau des technisch motivierten Gleichmuts und der Beziehungslosigkeit, in dem sich die abendländische Seele schon lange vor höheren, sinnstiftenden Mächten verschanzt hält.
Treue Houellebecq-Leser wissen, was sie an dem wohl unterhaltsamsten aller prophetischen Zeitdiagnostiker fesselt. Wer Houellebecq mit Genuss liest, hat sich mit dem Mittelmaß und der Uniformität der Gegenwart, ja seines eigenen Lebens, noch nicht abgefunden. Aus diesem stillen Trotz den empirischen Verhältnissen gegenüber speist sich dann auch jene von sanftem Mitleid getragene Sympathie für die unbarmherzig alternden Außenseiter und Durchschnittslebemänner – Alter Egos eines Enfant terribles aus Leidenschaft – das diese immer wieder zu den willfährigen Antihelden seiner Untergangsprosa macht.
Auch in „Serotonin“, seinem neuesten Opus, begegnen wir in Florent-Claude Labrouste einem mehr oder weniger kultivierten Endvierziger, der trotz hohen Einkommens, humanistischer Bildung und einer blutjung-verhurten japanischen Geliebten von der Banalität der eigenen Existenz so angewidert ist, dass er regelmäßig zu starken Antidepressiva greift, um sich nicht Hals über Kopf ins eigene Brotmesser zu stürzen. Bis dahin wie immer großartiger, schwarzhumorig bösartiger Lesestoff.
Bis Labrouste auf Seite 80 endgültig beschließt, seine Geliebte von heute auf morgen zu verlassen und auf Nimmerwiedersehen im Orkus der selbstgewählten Anonymität zu verschwinden – freilich nicht ohne auf der nun folgenden Reise durch Südfrankreich (und die Trümmerlandschaften seiner Vergangenheit) seiner alten Flamme Camille nachzustellen: Der einzigen Frau, mit er jemals glücklich gewesen war.
Houellebecq unterläuft nun der unverzeihliche Fehler, die restlichen 250 Seiten Vermutungen über ein Thema anzustellen, das für ihn so sehr im Dunklen liegen muss, wie die Rückseite des Mondes. Ein Thema, das er uns, seinen treuen Lesern, bislang gnädigst erspart hatte. Er müsste doch wissen, wie sehr wir nach dem zähflüssig dunklen Blut lechzen, das er in seinen Romanen immer wieder aus den Eingeweiden unserer postmodernen Heillosigkeit presst. Houellebecq kann wirklich über Vieles schreiben, aber doch bitte jetzt nicht auch noch über die Liebe!
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