Rausch und Jagd
Natürlich gab es mitunter auch Tage stumpfsinnigster Langeweile zwischen den elysischen Stunden, die unser Leben mit Glanz und Sinn erfüllten. Matte Tage, die wir größtenteils vagabundierend in den Einkaufsstraßen, Geschäften und Cafés unserer Stadt meuchelten. Trotzdem war uns das Leben, gerade auch in solch unwilligen Stunden der Tatverweigerung, ein Geschenk. Obwohl wir plötzlich mit unserer eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert, auf nichts als unsere eigene Person zurückgreifen konnten, war uns das Leben an sich nie langweilig. Es war die Routine, die wir flohen. Um jeden Preis, und kostete es uns unsere Ruhe, wollten wir verhindern, dass diese von unserem Alltag Besitz ergriff und unser abenteuerliches, von Vergnügung zu Vergnügen jagendes Leben zum ersticken brachte. Wir wussten mit prophetischer Gewissheit, dass hinter jeder Ecke dieser Welt ein neues Abenteuer unser harrte. Und so duldeten wir vorübergehende Stunden des müßigen Müßiggangs mit der stoischen Ruhe von Männern, die wissen wann der Zeitpunkt gekommen sein würde, Taten zu zeitigen. Wir waren ein eingefleischtes Team. Unsere Sehnsucht nach dem Duft der Frauen war grenzenlos und darin unterschieden wir uns von anderen Vertretern unseres Geschlechts. Uns genügte es nicht mit den Frauen zu schlafen, denen wir begegneten. Wir wollten sie besitzen, sie an uns fesseln, bezaubern, uns zu ihrem Götzen aufschwingen. Obwohl wir uns nie mit Einer Einzigen zufrieden gaben, verliebten wir uns doch ausnahmslos in alle dieser wunderbaren Geschöpfe. Sie alle erinnerten uns daran, dass das menschliche Leben göttlich ist, dass es da draußen ein allmächtiges Wesen gab, das unserem Dasein einen Sinn gab. Um es auf eine Bezeichnung zu bringen: Wir waren romantisch-besessene Mystiker. Uns faszinierte das Unerklärliche, das Geheimnis. Und doch wollten wir es enthüllen, versuchten zumindest ihm mit jedem erfolgreichen Aufriss ein wenig mehr auf den Grund zu gehen. Das Paradoxe daran war: Hätte uns das Schicksal das unendliche Geheimnis enthüllt, dessen vollkommenste Verkörperung auf Erden für uns die Frau war, wir hätten den Göttern geflucht und uns mit fürchterlichem Lachen ins Unglück gestürzt.
Wortgebäude
Ich sitze an meinem Schreibtisch und errichte Wortgebäude. Gebäude, die auf materieller Ebene keinen Halt finden, geschweige denn in irgendeiner „Form“ zu begehen sind. Dennoch sind es Gebäude, weitläufig und bewohnt. Die Bewohner dieser geistigen Machwerke, zahlreich und eitel, füllen die Zimmer – manche eng und klein, andere wiederum groß und geräumig – mit ihrer ungreifbaren ideellen Präsenz. Sie nennen sich Gedanken und bewohnen diese aus Buchstabenziegeln gefertigten, verschachtelt zeitlosen Behausungen erst seit Kurzem. Da viele jener ewig alternden, niemals zur Ruhe kommenden Individuen aus verschiedenen Familien stammen und diverse Anschauungen vertreten, trotzdem aber (oder gerade deswegen) oft gezwungen sind, auf engstem Raum miteinander auszukommen, kommt es unter ihnen häufiger zu Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen, die bisweilen in wahren Wortschlachten ihren epischen Höhepunkt erreichen. Die Opfer dieser beispiellosen Szenen sprachlicher Gewalt, die langsam verendend auf der Straße der Schlussfolgerung aufhören zu existieren, sind meistens die Edleren unter dem Gedankenvolk: die Ideale. Sie haben sich vor allen Anderen bis zuletzt eine erhabene Würde, eine Aura von Tugend und Wahrhaftigkeit bewahrt. Darum beneiden sie auch viele der einfältigeren, niederen Gedanken, verhöhnen sie und trachten ihnen nach dem Leben.
Ich sitze an einem Schreibtisch und errichte Wortgebäude, die den Verfolgten unter meiner geistigen Untertanen Asyl gewähren.
Am wechselnden See
Wenn man an einem ruhigen, schwülen Sommerabend allein oder mit Freunden am wechselnden See sitzt, dessen Spiegel man schon lange kennt – wie einen flüchtigen Bekannten, dem man jede Woche mit leichtgeschenkter Sympathie am selben Ort begegnet, obwohl man nicht sein Alter kennt, geschweige denn die äußeren Pfade seines Lebens – wenn man alles Gehen, Wehen, Werden plötzlich (ganz kurz) in diese unscheinbaren Züge schreibt, weiß man wieso nichts dauert und trotzdem alles ewig ist. Man liebt dann viel stärker, weil Fühlen und Erkennen zusammenstürzen, wie große Tempel längst vergang’ner Völker, die eines Nachts vom leichten Wehen einer Brise erschüttert werden und zu Staub verdonnern. An solchen Tagen, wo die Dinge seltsam hell erscheinen, liebt man das Wasser, weil es niemals ruhig ist, den Wind, weil er die Stirne kühlt, die Düfte mancher später Sommermagnolie, weil ihre Süße entzückt – ganz ohne Forderungen an den Geist zu stellen, oder die Stille.
Wenn man dann sein Bewusstsein öffnet und in der warmen Luft baumeln lässt, seine Pflichten gegenüber der Welt, vom eisig brandenden Campari begleitet, dankbar als Spiel begreift; wenn man sich auf einmal all’ der Schönheit besinnt, die sich zwischen der matt ausbreitenden Wirkung des Alkohols, dem von fern und nah klingenden Gesprächen, dem unschuldigen Weiß des Tischchens, an dem man sitzt, ausbreitet wie ein Lied aus hundert Stimmen – wenn man sich so treiben lässt und die Gedanken weit aufs Wasser gleiten, und noch weiter, über die dämmernden Berge, ins Land, das man liebt, wo wild die Sehnsucht dunkel blüht und Mädchen lachend Küsse schenken, dann hält man eigentlich schon den Schlüssel in der Hand, den Epikur im Garten fand.
Zigarren und der Tod der Muße
Setzt man sich raus ins Cafe, an einem der wenigen frühsommerlichen Abende dieses lauwindig- umwölkten Mais, begegnet man immer öfter einer in Nikotinanbeterkreisen bis vor kurzem als nahezu ausgestorben betrachteten Spezies: Dem Zigarrenraucher. Als gäbe es keinerlei Verpflichtungen jenseits des bläulichen Nebels, der seinen Erzeuger in einem solch unbeschwerten Moment mystisch umflort, hält der Unbekannte seine Zigarre voll ruhiger Begeisterung. Sein Blick, seltsam frei von den Mühen des Tages, schweift über die Tische und Gläser anderer Gäste und kehrt immer wieder zum Nebel der Kubanischen zurück. Fast als sei dieser Nebel, den er mit kontemplativer Langsamkeit gen Himmel entsteigen lässt, in seiner Körperlichkeit die wahre Rechtfertigung für diesen schönen Abend, und nicht umgekehrt. Irgendetwas muss dieses handgerollte Stück Zeit seiner schlanken weißen Schwester voraus haben, denke ich, und bitte um Feuer.
Ein Gleiches: So schön es ist, dass wir seit knapp 6 Jahren in Restaurants, Cafes und Bars wieder frei durchatmen können, so traurig kann man doch darüber sein, dass damit eine weitere Schaufel Erde für das Grab unserer alten europäischen Muse, der Muße, ausgehoben wird. Die werden wir alle bald auf dem rauchfreien Friedhof gesunden und genussfreien Älterwerdens zu Grabe tragen. Wenn dieser Tag kommt – und bei all den herum-dynamisierenden Arbeits- und Alltagsoptimierern, die ihr Leben im Viertelstundentakt planen, ist er wohl nicht mehr weit – wird der letzte Zigarrenraucher dieses Planeten hoffentlich die Laudatio halten. Ein letztes Mal wird er, genießend und lächelnd, an seiner Kubanischen ziehen. Er wird sich Zeit lassen. Und ihren schweren Rauch dann nochmal all denjenigen ins Gesicht blasen, die schon wieder auf die Uhr geschaut haben, um vor dem Abendessen noch rechtzeitig zum Joggen zu kommen.
Das magische Theater
Anfang und Ende
Umringt von tobenden, wogenden Menschen, stehst du, ein Einzelner, am letzten Tag des Jahres, kurz nach zwölf, auf einem weiten Platz in unbekannter Stadt, die heimisch wirkt, weil sie durchs Freudenfeuer geht an diesem Abend, an dem du losgelöst von allem Werden mit Freunden lachst und trinkst und jubelst auch, weil ihr ins neue Jahr euch feiern werdet, wie jedes Jahr, an dem Dinge gelernt, Frauen gewonnen, Weine geleert, Witze gemacht und fremde Städte besucht wurden. Du freust dich, weil du Wörter geschrieben hast, die dir richtig vorkamen, weil du Momente erlebt hast, die dir reich und selten schienen, wie schwarze Perlen, die man, zu kostbar um sie zu verlieren, in einen weiten Safe einschließt, von dem man irgendwann, zwischen zwei Jahren, den Code vergisst, sodass der kleine Augenblick in Finsternis sein Dasein fristet, von keinem Licht bewegt und keiner Träne laut gemacht, bis dass ein Enkel dir in jüngster Zeit den Schlüssel weist.
Ja, du wirst älter, erkennst bald die Versäumnisse deiner Tage, lächelst eifrig, wenn man Gottes Lob anstimmt, an Weihnachten und bei den Taufen deiner Kinder; setzt dich zum Frühstück an den harten Tisch, der deiner Frau so lieb war, als sie ihn gekauft und jetzt nur noch die Unterlage deines ruhigen Alltags bildet, durch nichts erschüttert als den Tassen und dem Klang der Teller. Du siehst die Frau, die du doch einst geliebt und in den Träumen über Klippen trugst: Ein fremdes Wesen, das du nicht mehr kennst, von dem du nicht mehr weißt, ob du es kanntest. Du steigst ins Auto, fährst zu deiner Arbeit, die du nicht hasst, noch achtest, sie ist so anders ja als du es ahntest, an diesem menschenumringten trunkenen Dezemberabend, als du noch frei und laut die Sterne zähltest, so ganz im Ernst, wie einer, der Kinder zählt, die ihm gehören.
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