Rotbraunes Welken lag in der Luft. Die Blätter fielen schon. Eines machte wie immer den Anfang. Sanft, vom aufkommenden Wind zur Erde gedrängt, folgten ihm einige nach, taumelten in kleinen, unschuldigen Kreisen auf den gepflasterten Platz, der ein Cafe’ einschloss. Manchen der luftigen Tänzern versprach der jugendliche Herbst eine längere Reise und übergab sie den Wassern des Flusses, der sie wie kleine Boote hinaus auf den blauer werdenden See trieb. Die Gruppe runder, mit frischweißen Tüchern bedeckter Tische in der Mitte des Platzes umrahmten Ahorn und Linde, als seien sie Wächter gestohlener Träume.
Hier hatte sich der Dichter mit einem Mädchen verabredet. Er war ihr, wie es so kam, bei einem seiner morgendlichen Spaziergänge durch die Stadt vor einem Schaufenster für Antiquitäten begegnet. Das Schaufenster gehörte zu einem Geschäft, bei dem er selbst oft gern verweilte. Es bereitete ihm ein kindliches Vergnügen, die kleinen und großen, zierlichen und wuchtigen Gegenstände in der Auslage zu betrachten, die früheren Zeiten einmal Leben geschenkt hatten. Er hatte dann immer das Gefühl, dass er an der Vergangenheit dieser Dinge – und sei es auch nur hier und jetzt – ein klein wenig teilnehmen konnte. Das unumstößliche Nacheinander der Zeit schien ihm in manchen solcher Augenblicke kleine Brüche zu bekommen. Alle diese Dinge lebten ja fort, und trugen die Seelen ihrer Vorbesitzer in die Räume, die sie mit ihrer Vergangenheit schmückten. Durch Grammophone, eichenhölzerne Sekretäre und vergilbte Bücher ließ sich der Lauf der Welt nicht verändern – der Ewigkeit schienen sie aber zumindest für einen Lidschlag Einhalt bieten zu können. Das freute ihn.
Lange hatte sie in ruhiger Haltung, ein wenig verträumt und verloren, einen lebensgroßen, in Silber gefassten Spiegel betrachtet. Nach dem er das Mädchen eine Weile aus einiger Entfernung betrachtet hatte – Sie hatte so etwas an sich gehabt – hatte er sich einen Ruck gegeben, war hinzugetreten und hatte sie wie beiläufig gefragt, was sie denn so an dem Spiegel fasziniere, dass sie schon minutenlang wie gebannt in sein milchig-blindes Glas schaue. Gar nicht erstaunt, hatte sie ihm mit einem schwer zu deutenden Lächeln, das den sinnlichen Mund und die dunklen Augen ganz bezaubernd mit kleinen, klugen Fältchen umstellte, erklärt, dass sie das unbestimmte Gefühl habe, sich in dem alten Spiegel viel besser zu erkennen als in einem gewöhnlichen, gerade vielleicht weil sie sich in ihm nicht wirklich sehen könne. „Du bist aber eitel.“, hatte er amüsiert geantwortet und seine Augen dabei gespielt von oben herab in die ihren gesenkt. Sie hatten beide gelacht und noch eine ganze Weile über den Mut zur Eitelkeit, die Vergänglichkeit des Sichtbaren und die Ewigkeit des Augenblicks gescherzt. Bevor sie sich trennten, hatten sie sich für den kommenden Abend in besagtem Cafe’ auf ein Glas Wein verabredet.
Es war 19 Uhr. Wie ein zudringlicher Freund aus alten Tagen erinnerte ihn der Kirchturm in der Nähe daran, dass das alte Spiel um Anziehung und Verführung sogleich wieder seinen Lauf nehmen würde. Und wie immer, wenn er einer neuen Eroberung mit dem Selbstbewusstsein eines von der Welt und den Frauen verwöhnten Menschen entgegensah, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer und geballte Lebenslust durchströmte seine Glieder. Das Mädchen, sie mochte wohl fünfundzwanzig gewesen sein, hatte ihm gefallen. In ihrer Schönheit – von ihrem schwebend-tänzelnden Gang über die weißen, vollen Brüste und feinen Arme bis hin zur schwarzen Tiefe ihrer Augen – war etwas überaus Flüchtiges gewesen, das ihn seltsam anrührte.
„Guten Abend.“ – Ihre Stimme riss ihn sanft aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah wieder das rätselhafte Lächeln, das ihn schon am Vortag vor dem Schaufenster in ungewohnten innerlichen Aufruhr gebracht hatte. Ein selbstbewusstes Lächeln voller Lebensfreude und kecker, anmutiger Melancholie. Dieses Lächeln war einladend und herausfordernd zugleich. Es lag viel Gelebtes in ihm. „Guten Abend, schöne Unbekannte.“, erwiderte er mit gespielter Nonchalance. Ihr Erscheinen hatte ihm plötzlich, ohne dass er genau wusste wieso, die Fassung geraubt. Nur mit einiger Mühe gelang es ihm, ihrem Blick standzuhalten, einem Blick, in den er sich in dieser Sekunde gerne rücksichtslos, mit Leib und Leben gestürzt hätte, ohne sich noch einmal umzublicken…
Neueste Kommentare